Die Fürstin und ihr Ritter: Kampan Band 1 – Leseprobe
von Maika Adam
Im Jahre 60 nach den Fürstenkriegen
»Tino von Berchag? Diesen Kerl?« Arco starrte sie an. Der Löffel mit Hirsebrei, den er zum Mund führen wollte, blieb wie erstarrt in der Luft stehen.
Iara zwang sich, weiterhin in die entsetzten Augen ihres Bruders zu schauen.
»Das ist nicht wahr.« Arcos Stimme brach, als wäre er im Stimmbruch, der jedoch Jahre zurücklag. Der Löffel fiel ihm aus der Hand und ließ den Brei auf das Tischholz spritzen. »Das kann nicht wahr sein. Weißt du denn nicht, was das für einer ist, Iara? Gewalttätig ist er. Roh und wild! Schlimmer als die übelsten Rüpel, die die Mütterlichkeitslehre beschreibt. Den willst du hier haben? Sag, dass das nicht stimmt! Sag es!«
Iara konnte es nicht sagen. Es stimmte. Sie wollte sich mit Tino von Berchag verbinden. Und zwar heute. Bereits vor einem Monat hatte sie der Stätte der Begegnung geschrieben, um eine Verbindungsanbahnung in die Wege zu leiten. Die Entscheidung, Tino als ihren Ritter zu erwählen, hatte sie früher getroffen, vor Jahren. Niemals hatte sie darüber gesprochen. Auch vor einem Monat hatte sie ihren Brüdern lediglich verraten, dass sie sich verbinden wolle, aber nicht mit wem. Jetzt, beim Frühstück mit den beiden, hatte sie ihnen mitgeteilt, wer der Auserwählte war. Warum hatte sie es nicht früher kundgetan? Vermutlich aus Furcht vor genau dem, was eintrat: Ärger, Vorbehalte und Widerspruch.
Arco sprang von seinem Platz auf.
Iara nutzte den Augenblick, um zu Ricar zu schauen, dem jüngeren ihrer zwei Brüder. Er hatte seit Iaras Enthüllung nichts gesagt. Auch nun schwieg er. Immerhin wich er nicht ihrem Blick aus. Selbst dort, in Ricars graugrünen, ihr wertvollen Augen, machte sie Bedenken und Unsicherheit aus.
»Er wird Kampan zerstören, Iara«, rief Arco aus der Raummitte heraus. Auf seinem Nasenrücken bildeten sich Fältchen, die wie der herabgezogene Mundwinkel von Ärger sprachen. »Warst du schon einmal in Berchag? Man muss dort bloß durchreiten, dann sieht man die Trostlosigkeit, die Armut, die Verzweiflung, die das Land im Griff hat. Alle Welt weiß, was für ein Schuft Tino von Berchag ist. Er schlägt zu, wenn einer ihm nur im Weg steht! Er prügelt seine Männer ohne Grund. Ich will gar nicht wissen, wie es am Hof von Berchag aussieht. Mir reicht, was man von dem Widerling auf Turnieren sieht …« Arco stockte, hob die Finger zum Mund und murmelte hinter der Hand: »Das habe ich jedenfalls gehört.«
Ricar nutzte die Pause im Redeschwall seines Bruders: »Na, jetzt übertreibe nicht, Arco. So schlimm kann es nicht sein.«
»Was hast du für eine Ahnung! Du weißt nichts von der Welt. Führst bloß immer große Reden. Hast du ihn jemals gesehen? Vielleicht nur von der Ferne? Nein, mein kleiner Bruder, hast du nicht. Der Ritter wird Kampan in den Abgrund stürzen. Und du, Iara, was denkst du dir? Du bist die Fürstin. Das hier ist dein Land. Liegt dir nichts an Kampan?«
»Genau, Arco.« Iara ließ ihre Stimme entschieden und kühl klingen, um weder Wut noch Unsicherheit zu offenbaren. »Ich bin die Fürstin. Ich treffe die Entscheidungen. Wir reisen ab, sobald die Kutsche angespannt ist. Veranlasse das!« Sie erhob sich – langsam, wie eine Fürstin sich zu erheben hatte.
Arco wurde bleich. Vermutlich war es eine Blässe, die gleich darauf in Röte und damit in Wut, stärker als zuvor, umschlug. Das würde sie nicht mehr sehen, denn sie verließ das Gemach, in dem sie immer mit den beiden jungen Kampaner Rittern frühstückte, in Richtung ihres Schlafgemachs. Arco musste in die andere Richtung gehen, die ihn zur Treppe und von da in den Hof führte. Dort hatte er den Höflingen den Befehl zu geben, die Kutsche anzuspannen.
Im Nachbargemach, in dem neben einer Liege ihr Lieblingsmöbel, ein Schreibpult, stand, wrang sie die Hände. Der Atem kam stoßartig. Welche Erschütterung ihr Vorhaben hervorrief. Das hatte sie nicht geahnt, obwohl sie befürchtet hatte, dass es Vorbehalte gegen Tino von Berchag gäbe. Begründen konnte sie die Furcht nicht, denn eigentlich wusste sie nichts über den Menschen, den sie dazu erwählte, der Mann an ihrer Seite und somit erster Ritter Kampans zu werden. Sie verband mit ihm einzig die Erinnerung an ihren Blickwechsel im Hof von Mirao. Ein Erlebnis, das in ihr all die Jahre seitdem immer wieder Gefühle wachrief: Aufregung, zugleich Angst – aber vor allem das Empfinden, dem Schicksal begegnet zu sein, von da an zu wissen, wer der mit ihr verbundene Mann sein würde.
Aufgewühlt schritt Iara ans Fenster, um in den Hof zu schauen. Sollte sie die Verbindungsschließung aufschieben? Wäre es besser, Erkundigungen über Tino von Berchag einzuziehen? Ihn unter einem Vorwand nach Kampan zu bitten? Wäre das klüger? Hatte Arco nicht Recht: War sie nicht das bisschen an Vorsicht Hof und Land schuldig? Immerhin konnte Tino als erster Ritter gegenüber den Kampanern einiges an Befehlsgewalt ausüben.
Arco stieg die Freitreppe hinab. Selbst sein Gang verriet die Wut, die in ihm tobte. Wut und Angst. Ja, auch die hatte in Arcos Augen geglommen.
Sollte sie sich über den Fenstersims lehnen und hinausrufen, man müsse die Kutsche nicht anspannen? Es reiche, einen Boten zu schicken? Sie rückte ein Stück weiter nach vorne, legte die Ellenbogen in die Maueraussparung, beugte sich vor, so dass man sie vom Hof aus sehen konnte.
Doch dann bemerkte sie, was sich im Hof ereignete: Arco gab nicht den Befehl zum Anspannen der Kutsche. Stattdessen ließ er seiner Entrüstung freien Lauf. Gleich vor der Freitreppe berichtete er den Hofleuten, mit wem sie sich zu verbinden gedachte.
Die Fäuste ballten sich ohne ihren Willen zusammen, ein Rauschen entstand in ihr, das ihr bedrohlich vorkam. Sie stieß sich von der Fensteröffnung zurück, wirbelte herum und stürmte in das erste Gemach.
Ricar drehte sich vom dortigen Fenster zu ihr. In seinem Blick lagen weder Vorwurf noch Angst. Was gäbe sie dafür, wenn sie Ricar mitnehmen könnte zur Stätte der Begegnung, wenn er der sie begleitende Ritter wäre. Aber er galt mit seinen vierzehn Jahren als zu jung.
»Ich möchte, dass die Kutsche angespannt wird – und zwar sofort.« Iara wunderte sich selbst über die Kälte ihrer Stimme.
»Ja, Fürstin.« Ricar eilte zur Tür. Bevor er das Gemach verließ, wandte er sich um. »Du hast noch nie eine falsche Entscheidung getroffen, Iara. Das wird schon gutgehen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann war er verschwunden.
Gleich darauf ertönte Ricars zwar junge, aber kraftvolle Stimme im Hof: »Die Kutsche anspannen! Sofort!«
Ricar beobachtete, wie die Kutsche aus dem Hof fuhr, begleitet von dem mehr als missmutig dreinblickenden Arco und einem Gefolge aus acht Mann.
Kaum war der letzte Reiter außerhalb des Hoftors, umringten ihn die Hofleute, sowohl Männer als auch Frauen. Sogar Kinder tummelten sich in der Gruppe. »Ist das wahr, Rici?«, riefen sie. »Soll es der Berchager werden?« »Wird es wirklich Tino von Berchag?«
Was wusste er selbst von dem Ritter des Nachbarlandes? Offenkundig waren alle davon überzeugt, dass Tino roh und gefährlich war. Woher nahmen sie ihre Kenntnisse? Einerseits ahnten sie es von dem, was Arco kurz zuvor im Hof erzählt hatte. Andererseits entsprang es vermutlich dem Wissen der Männer, die Iaras gelegentliche Reisen begleiteten oder Stoffe in andere Länder lieferten. Er selbst wusste nichts über Tino von Berchag.
Ricar schaute auf die um ihn stehenden Menschen. Die Mägde hatten mit Sicherheit keine eigene Erfahrung beizutragen. Die Höflinge hingegen waren entweder zu jung, um mit auf Reisen zu gehen, oder zu alt. Es brachte nichts, jemanden von ihnen zu fragen. Doch, einen: Tomear.
Tomear hatte noch vor ein, zwei Jahren zu den Reitern gehört: bis zu dem Tag, an dem Ricars Vater Ert ihn aus der Gruppe herausgenommen hatte. Zu alt sei er, hatte Ert damals befunden. Tomear war erschüttert gewesen, trotzdem hatte Ert die Entscheidung nicht zurückgenommen. Erts Söhne, Arco und er taten das folglich ebenso wenig. Er selbst schon gar nicht: Er war zu jung. Das würde sich erst in einem Jahr ändern: mit 15 Jahren. Von da an galten alle Söhne edler Häuser als Ritter.
Die Hofleute beachteten ihn nicht mehr, sondern sprachen wild durcheinander. Befürchtungen und überzogen anmutende Voraussagen wurden getauscht.
Ricar trat aus der Gruppe heraus, zog Tomear mit sich zum Rande der Freitreppe. »Was weißt du über Berchag?«
Tomear strahlte vor Freude, gebraucht zu werden. Vielleicht hatte Ert zwar damit Recht, den Höfling nicht mehr als Reiter auf Reisen einzusetzen. Vermutlich müsste er ihm aber eine andere, ebenfalls wichtige Aufgabe anvertrauen. »Leider nicht viel, Rici. Die Berchager leben abgeschieden. Wenn wir mit Arco Stoffe dorthin geliefert haben, wo gerade ein Turnier war, habe ich diesen Tino gesehen. Er hat immer gesiegt.« Seine Augen zogen sich zusammen. »Er sieht gefährlich aus. Das stimmt. Manchmal hat er einen Fechtkampf allein deshalb gewonnen. Der Gegner hatte Angst vor ihm, weil er bedrohlich aussieht.«
»Hm, ist er denn gefährlich?«
Tomear verzog sein Gesicht zu einem düsteren Ausdruck, was die Zahl der Falten vervielfachte. »Ich war einmal am Hof von Berchag. Wir wollten Honig kaufen, was wir sonst in Mirao machen. Dort gab es aber keinen. Mara hat mich dann nach Berchag geschickt. Honig und Fleisch verkaufen die Berchager. Als ich zum Hoftor hineingeritten bin, hat Tino gerade einen der dortigen Höflinge geschlagen. Nicht, wie du dir das jetzt vorstellst, wenn Ert einmal wütend ist. Nein. Aufs Übelste verprügelt hat er ihn. Der Mann konnte nachher nicht mehr laufen. Dann kam Tino zu mir. Was hatte ich für eine Angst!«
»Er hat dafür gesorgt, dass du Honig bekommen hast?«
Tomear nickte.
»Gibt es noch mehr Ritter in Berchag?«
Tomear zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht.«
»Und junge Fürstinnen?« Ein Gedanke stieg in Ricar auf.
»Nein, auch nicht. Das hat mir der Imker erzählt, der mir den Honig abgefüllt hat. Da ist nur die eine Fürstin: die Mutter von Tino. Es gab irgendeine andere Frau, die wichtig ist, aber sie ist nicht edler Abstammung.«
Ricar fuhr sich durch die Haare, klopfte Tomear auf die Schulter und ging durch einen der kleineren Eingänge ins Haus zurück. Es musste nicht jeder sehen, wohin er wollte. Wenig später stand er im mittleren der drei fürstlichen Gemächer und zog eine der Landkarten hervor. Er breitete sie auf der Liege aus. Das Gebirge des Südens erstreckte sich in Windungen und Kurven vom terreiischen Großraum im Südosten bis zum Meer weit im Westen. Kampan selbst lag etwa in der Mitte der Strecke. An Kampans östlicher Grenze schloss sich Berchag an. Das Land entpuppte sich auf der Landkarte im Vergleich zu Kampan sogar als kleiner.
Das, was in ihm als Gedanke unten im Hof aufgeglommen war, bezeugte die Karte. Das Gebirge des Südens formte zwei Vorsprünge, die wie Nasen nach Norden drangen. Eine davon lag östlich von Berchag, die andere westlich von Kampan. Somit bildeten die Berge eine Art schützende Hand um die beiden Länder: als teilten die sich eine Bucht.
Das war der Grund für Iaras Entscheidung! Falls die Fürstin von Berchag die letzte Fürstin dort und Tino deren einziger Sohn war, fiele Berchag durch die Verbindung früher oder später an Kampan. Die Karte bewies das wie eine Verheißung, wie etwas, das zu geschehen hatte, das sich längst hätte vollziehen sollen.
Folglich, so Ricars nächster Schluss, erwies sich Arcos Vorwurf als falsch. Iara war ihr Land keineswegs gleichgültig. Im Gegenteil! Sie traf die Entscheidung zu der Verbindungsschließung einzig und allein für ihr Land: Damit Kampan eines Tages seine wahre Größe und Gestalt annahm. Zugleich hieß das, dass Iara sich in gewisser Hinsicht opferte. Sie nahm es auf sich, sich mit einem gewaltbereiten Mann einzulassen.
Vielleicht war Iara die Sache zwischen Männern und Frauen sowieso nicht wichtig. Oder war er zu jung, um das nachzuempfinden? Doch eines war klar: Nie bemühte seine Schwester sich um irgendeinen der Männer am Hof näher oder verlor Bemerkungen zu deren Aussehen. Lag ihr nichts an dem, worüber die Hofleute oft sprachen und verschämt Witze machten, nämlich die Liebeleien zwischen Mann und Frau?
Selbst wenn all das bedeutungslos für sie wäre, müsste sie Tino ertragen. Ricar rollte die Karte zusammen. Er würde Iara unterstützen. Man sollte alles unternehmen, um Tino von Berchag zu besänftigen. Der neue Ritter sollte eine aufmerksam vorbereitete Unterkunft am Hof bekommen, es musste besonders gutes Essen an seinem Ankunftstag geben und der Hof sollte ordentlich aussehen.
Er würde die Prüfung nicht bestehen, sondern sich verweigern wie beim letzten Mal. Sie würden ihn wieder fesseln, prügeln, vielleicht auspeitschen. Trotzdem: Er würde die lächerliche Prüfung nicht bestehen. Einsam ritt Tino auf das Gebäude aus rötlichem Sandstein zu. Er kannte es bereits: das rechteckige Anwesen, in dessen Mitte ein Innenhof verborgen lag – ein Hof, groß genug, um die Kutschen und Gefolgschaften von mehreren Fürstinnen aufzunehmen. Alle Gebäudeseiten bargen drei Stockwerke, nach innen zum Hof und nach außen zu Feldern sowie lichtem Wald durch gelegentliche Fensteröffnungen verbunden. Einzig der Gebäudeteil, der vor ihm lag, ermöglichte den Weg in den Innenhof. Ein großes, offen stehendes Tor gab scheinbar einladend den Weg frei.
Für Tino kam es dem Tor eines Verlieses gleich, das sich hinter ihm schloss, sobald er durch es hindurchgeritten war. Er würde sich nicht fügen! Auch diesmal ließe er sich nicht mit der Fürstin von Baro verbinden. Zwar wollte er fort von Berchag – nichts lieber als das. Aber nach Baro? Das wäre sein sicherer Tod. Eher litte er bis zum Ende seiner Tage unter der mütterlichen Herrschaft. Er würde – in welchem körperlichen Zustand auch immer – die vor ihm liegende Stätte des Unheils wieder verlassen. Baro war schlimmer als Berchag. Und das sollte etwas heißen.
Mit jedem Schritt, den ihn sein Pferd Hari dem Tor näher brachte, verstärkte sich der Druck in seiner Brust. Er zügelte die Stute nochmals, weshalb sie sich überaus langsam in den Innenhof der Stätte der Begegnung hineinbewegte.
Was war das? Ein unerwarteter Anblick: nicht das waffengewandte, kriegerisch anmutende Gefolge der Fürstin von Baro. Ebenso wenig eine teure Kutsche, die den Baroer Reichtum erkennen ließ. Nein, dort fand sich ein Gefährt, ähnlich ärmlich wie das von Berchag, und eine Handvoll Reiter, die ihrerseits ihn anstarrten. Tino machte den Wimpel an der Kutsche aus: Kampan! Der dazugehörige Ritter stand wie versteckt inmitten der Gruppe der Höflinge: Arco von Kampan, den er hin und wieder auf Turnieren sah – ein kläglicher Fechter.
Der Druck in ihm führte sich auf, als kochte Wasser in einem Topf über und schwemmte den Deckel weg. Tino riss seine Hari nach rechts, stob auf Arco zu, der angstvoll die Augen aufriss.
Tino sprang vom Pferd und presste die Worte hervor: »Hat deine Fürstin mich gerufen?«
Arco nickte. Das Gesicht, umgeben von braunen Haaren, leuchtete bleich, vermutlich heller, als es sonst war. Die gleichfalls braunen Augen zogen sich zusammen.
Tino packte ihn am Arm, riss den jungen Ritter an sich heran und knurrte von oben herab in die aufgerissenen Augen: »Warum hast du mir das nicht berichtet? Wie weit ist es von Kampan nach Berchag? Ein derart kurzer Ritt war dir zu viel?«
Arco zitterte in seinem Griff.
»Ich dachte, jemand anderes erwartet mich hier«, raunte Tino, weil Arco nicht antwortete. »Eine der Teufelsfürstinnen, die einen Ritter nach dem anderen verbrauchen. Woher sollte ich ahnen, dass die Fürstin von Kampan mich ruft? Jetzt schau mich an! Das Hemd ist seit mindestens drei Tagen getragen. Die Hose sogar länger. Den Umhang hatte ich bei der letzten Wildschweinjagd dabei. Was meinst du, was die Fürstin von Kampan dazu sagt? Stimmt es nicht, dass Kampan Stoffe herstellt, bekanntermaßen hochwertige, hervorragend gewebte Stoffe? Was wird sie sagen?«
Arcos Mund stand offen. Die ganze Zeit. Nun drangen Worte aus der bislang nutzlosen Öffnung: »Was meinst du, was die Fürstin von Kampan sagt, wenn sie sieht, wie du ihren Bruder bedrängst?«
Es dauerte eine Weile, bis nicht allein Arcos Angst, sondern ebenfalls seine Worte in ihn drangen. Tino stieß Arco von sich. Er wagte es nicht, sich umzudrehen und zum Haus zu blicken. Ohnehin hätte er keine Ahnung, aus welchem der Fenster heraus die Fürstin von Kampan vielleicht tatsächlich das Geschehen beobachtete. Womöglich hatte sie bereits auf der anderen Seite des Gebäudes herausgeschaut und gesehen, dass er allein kam: allein zu einem Ereignis, das als Höhepunkt im Leben eines jungen Ritters galt. Dazu erschien man nicht nur gut gekleidet und frisch gewaschen, sondern gleichfalls mit einem Gefolge.
»Ich weiß selbst erst seit heute Vormittag, wen sie erwählt hat«, rechtfertigte sich Arco, nachdem er wieder einen festen Stand gefunden hatte. »Da waren wir bereits bei der Abreise. Ich konnte nicht nach Berchag reiten.«
Tino starrte Arco an, was bei dem jungen Ritter vermutlich stärkere Verunsicherung hervorrief als Tinos zu kräftiger Griff an dessen Arm zuvor.
»Du könntest«, wisperte Arco mehr, als dass er sprach, »ein Hemd von uns haben. Wir reisen immer mit Ersatzhemden.«
Tino sah an sich herab, um gleich darauf zu nicken. Dann schaute er sich im Hof um, vorbei an den Kampaner Männern, die zwar um Arco und ihn herumstanden, trotzdem einen gehörigen Abstand zu ihm hielten. Er erspähte den Dienstburschen der Stätte der Begegnung, den er vom letzten Mal kannte. Tino musste sich beeilen. Er war spät gekommen, was – wie das Alleinreisen und die schmutzige Kleidung – ein Zeichen des Unwillens, der Zurückweisung darstellte. Das war geplant gewesen. Mit der unerwarteten neuen Lage erwies es sich als falsch. Denn nun könnte er sich aus der Trübsal Berchags befreien, ohne in die Hölle Baros einzutreten. Der Bursche würde ihn in den Waschraum bringen, hoffentlich eine Bürste zum Säubern der Lederhose zur Verfügung stellen.
Von Arco lieh er sich ein Hemd.
Als Tino bei dem Jungen ankam, trat eine Magd aus dem Haus in den Hof. Ging es schon los? Könnte er sich nicht einmal ein wenig reinigen? Sorgen stiegen in ihm auf, und zwar schlimmer als die auf der Reise hierher, als er dachte, er stünde gleich der Fürstin von Baro gegenüber.
Doch das war keine Magd der Stätte der Begegnung, sondern eine Kampaner Magd – ein noch schlechteres Zeichen! Sie holte Arco ins Haus hinein. Die Fürstin von Kampan hatte also alles mit angesehen und befragte nun den Kampaner Ritter.
Tino hatte ausreichend Zeit gehabt. Gewaschen, bekleidet mit einem Kampaner Hemd und einer Hose, deren Leder frisch gebürstet war, folgte er der Oberin der Stätte der Begegnung. Er roch an sich selbst den Duft von Seife. Der Gürtel um die Hüften glänzte. Es fehlten an ihm jedoch die ritterlichen Zeichen: Schwert und Messer. Waffengewandtheit spielte hier keine Rolle.
Die Oberin führte ihn einen langen Gang entlang. Die Dunkelheit des fensterlosen Ganges stimmte überein mit der Schweigsamkeit der Frau neben ihm, die ihm bis zur Brust reichte. Sie sprach nicht mehr als die nötigen Worte mit ihm. Kein Wunder, er hatte ihr bei seinem letzten Kommen Ärger eingebracht. Sicherlich hatte die Fürstin von Baro ihre Wut an ihr ausgelassen, damals nach seiner Verweigerung bei der Prüfung. Dass die Oberin sich an ihm hatte rächen können, stellte vermutlich einen gewissen Ausgleich dar. Sie hatte genussvoll zugesehen, wie man ihn gefesselt und geprügelt hatte.
Tino atmete tief ein. Er verdrängte die Gedanken an seinen letzten Besuch der Stätte. Auf dem Ritt hierher waren sie angemessen erschienen. Mittlerweile stand er vor einer neuen Lage – vor einer, die er nicht einzuschätzen vermochte. Der Atem, der seine Brust weitete, spannte das Kampaner Leinenhemd. Das saubere, aus bestem Leinen gefertigte Hemd war an den Armen zu kurz und zwängte den Brustkorb ein. Dadurch kam Tinos in alle Richtungen ausladende Gestalt deutlicher zur Geltung.
Er wusste kaum etwas über die Fürstin von Kampan. Sie war nie zu Gast auf Turnieren – jedenfalls erinnerte er sich nicht daran. Wie sah sie aus? War sie selbst eher groß und füllig? Machte ihr dann Tinos Körpergröße nicht allzu viel aus? Das war unwahrscheinlich. Bei den meisten Menschen löste seine Gestalt Angst aus. Ansonsten fand er das vorteilhaft, doch jetzt? Nun wollte er auf keinen Fall Furcht wecken.
Sie erreichten eine zweiflügelige Tür. Ein wartender Junge öffnete einen der Flügel. Die Oberin trat ein, Tino folgte. Ein Saal erstreckte sich vor ihm, an dessen Stirnseite die Fürstin von Kampan in einem Lehnstuhl saß. Schräg hinter ihr stand Arco. Es war undenkbar für eine Fürstin, sich mit einem fremden Ritter oder einem anderen Mann allein in einem Raum aufzuhalten. Solange Tino nicht mit der Fürstin von Kampan verbunden war, galt die Regel auch für ihn. Vermutlich würde sie später gleichfalls gelten.
Er ging durch den Saal, bis er etwa zehn Schritte von ihr entfernt war. Die Landschaftsbilder an den holzgetäfelten Wänden nahm er ebenso beiläufig wahr wie die zahlreichen Stühle, die sich entlang den Seiten aufreihten, als ob Zuschauer den Prüfungen beiwohnten. In dem großen Lehnstuhl sah die Fürstin von Kampan einerseits unpassend schmal, fast hager aus, zudem bleich. Andererseits erschien sie ihm wie ein überirdisches Wesen. Sie strahlte etwas aus, das eine Zauberkraft besaß. Eine Welle im Raum schwappte von ihr zu ihm: Als gäbe es eine Verbindung zwischen ihnen, nicht sicht-, aber spürbar.
Tinos Herz klopfte nicht nur in der Brust. Es hämmerte im Bauch, im Hals, im Kopf. Es pochte derart laut, dass man es im Raum hören musste, weil das zu enge Hemd wie die Haut einer Trommel wirkte. Er kniete nieder, stellte dabei einen Fuß auf und legte die Hand auf das Knie. Dabei sorgte er für einen geraden Rücken und einen erhobenen Kopf. Für die Fürstin von Kampan wollte er so ritterlich und edel wie möglich knien. Sie bedeutete ihm plötzlich weitaus mehr als lediglich die Rettung sowohl aus Berchag als auch vor Baro.
Sie indes stutzte. Überdachte sie noch einmal, die Verbindung einzugehen? Vermutlich erschreckten sie zuerst die Art seines Eintreffens und nun seine Größe.
Wie sollte er sich verhalten, um sie zu beruhigen? Lieber den Rücken krümmen, um kleiner auszusehen?
Dann verschwand der Ausdruck der Verblüffung von ihrem Gesicht. Mit einem Wink veranlasste sie die Oberin zum Verlassen des Raumes. »Ich habe gehört, Tino, dass du nicht damit gerechnet hast, mich hier anzutreffen. Mir war nicht bewusst, mit welcher Strenge die Regeln der ersten Begegnung in der hiesigen Stätte angewandt werden. Sonst hätte ich einen Weg gefunden, dich anderweitig davon zu unterrichten. Es tut mir leid, dass ich das nicht getan habe.«
Sagte sie tatsächlich, was er hörte? Seine Mutter, die Fürstin von Berchag, räumte nie einen Fehler oder bloß eine Nachlässigkeit ein, geschweige denn entschuldigte sie sich. Ebenfalls in anderer Hinsicht kam ihm die Fürstin von Kampan nicht wie eine Fürstin vor. Waren nicht alle edlen Frauen füllig, hatten breite Hüften und sich vorwölbende Bäuche? Nichts davon war an der Fürstin von Kampan auszumachen. Sie war schlank. Das Gewand schmiegte sich an ihren Körper.
Die Kleidung, erkannte er, ließ sie bleich wirken. Sie besaß keineswegs blasse Haut. Das Gesicht zeigte eine Farbe, die man bei einer Magd sehen könnte: Die Sonne hatte Spuren hinterlassen. Das Gewand hingegen kam hell daher. Es war nicht, wie man bei einer Fürstin, zumal einer, die mit Stoffen handelte, annehmen musste, aus stark gefärbtem Tuch erstellt. Es zeigte einen Ton, der zwischen Gelb und Bronze schimmerte.
Sie erhob sich von dem Lehnstuhl und schritt auf ihn zu.
Zu seiner Verwunderung stellte sich in ihm nicht das Gefühl ein, das ihn sonst überfiel, wenn sich eine Frau ihm näherte. Im Gegenteil: Freude erwachte in ihm. Mit ihrem Näherkommen verstärkte sich die Welle des Überirdischen, der Sog, der ihn zu ihr zog, und der Wunsch, ihr immer so nah zu sein, dass er diese Wonne empfand.
Keine drei Schritte von ihm entfernt sah sie ihn an, etwas zu lang, geradewegs in die Augen. Eine Erinnerung blitzte in ihm auf. War er ihr schon einmal derart nah gewesen? Zugleich erkannte er an ihrem Gewand, dass sich tatsächlich zwei Farben in dem Tuch wiederfanden: ein helles Gelb und der Bronzeton. Wenn sie nah vor ihm stand, machte er beide Farben gesondert aus. War sie entfernt, wirkte es, als besäße der Stoff lediglich einen Farbton, allerdings einen, der zu leben schien, der eine innere Bewegtheit vorwies.
Sie nickte ihm zu, was bedeutete, er durfte sich erheben.
Er tat es nicht, denn ein Stehen würde seine Größe zu deutlich offenbaren.
»Da ich dir damit die Möglichkeit verbaut habe, Erkundigungen über mich oder Kampan einzuholen«, fuhr die Fürstin vor ihm stehend fort, »erzähle ich dir etwas über mein Haus und Land.« Sie bewegte sich durch den Raum, blieb dabei in dem Teil des Saales, in dem Tino sie von seiner Stelle aus sehen konnte. Das Gewand schwang um sie, die hochgesteckten Haare gaben die Form des Halses zur Betrachtung frei.
Er hörte ihre Stimme und musste sich zusammenreißen, damit er gleichfalls die Worte vernahm. Denn letztlich fühlte er sich wie in einem Traum: Alles mutete leicht verwaschen an.
»Kampan ist – genau wie Berchag – ein kleines Land ohne größere Reichtümer. Wir verfügen weder über Gold, Edelsteine noch sonst wertvolle Dinge, die die Natur uns einfach gibt. Wir haben dafür Menschen, die willig sind, für das gemeinsame Land zu arbeiten. Wir bauen Flachs an und gewinnen weiche Wolle von unseren Schafherden, aus denen wir gute Stoffe weben. Dank des Einsatzes meiner verstorbenen Mutter haben wir vielfache Handelsbeziehungen, was Kampan einen gewissen Wohlstand sichert. Trotzdem ist bei uns alles eher klein angelegt.« Sie kam wieder auf ihn zu. »Ich vermute, du warst nie an unserem Hof, oder?«
»Nein, Fürstin, ich war leider bislang nicht am Hof von Kampan«, brachte Tino eine Antwort hervor. Hörte er sich freundlich an? Er war sich dessen keineswegs sicher. Er hob leicht den Kopf, um zu ihr zu schauen. Wenn er kniete und sie vor ihm stand, war er ein wenig kleiner als sie.
Ihre Haare waren blond. Seine rabenschwarzen würden ihr wohl kaum gefallen. Zog jemand schwarzes Haar einem strahlenden Goldton vor? Trotz der hellen Haarfarbe besaß sie braune Augen, die ihn wohlwollend musterten.
Welche Erleichterung! Letztlich hatte er erwartet, dass sie ihn nicht freundlich, sondern prüfend ansah, dass sie ihn fragte, warum er ehrlos, ja, herablassend hergekommen sei.
»Wir sind nicht das Haus Zallern«, leichter Spott klang aus ihr, »mit seinem angeblich übergroßen Hof, vollgestopft mit Reichtümern jeder Art. Nicht nur der Hof Kampans ist kleiner, ebenso das Haus Kampan selbst. Ich bin derzeit die einzige Fürstin. Ich habe weder Schwestern noch Basen und fürstliche Tanten. Der Familie gehören ansonsten lediglich meine beiden Brüder an. Arco kennst du bereits. Unseren jüngeren Bruder Ricar hast du vermutlich bislang nicht getroffen.«
»Ja, Fürstin von Kampan, es ist, wir Ihr es sagt.« Hoffentlich strahlte nicht die Verwunderung aus ihm. Wieso sprach sie dermaßen freundlich mit ihm? »Arco und ich sind uns hin und wieder begegnet. Ricar kenne ich hingegen nicht.«
»Über kurz oder lang wird es so sein, dass meine Brüder ebenfalls Verbindungen eingehen und unser Land verlassen. Das heißt, das Haus Kampan wird noch kleiner sein und du wärst der einzige Ritter in Kampan – vorausgesetzt, du willst das überhaupt werden.« Ihr Rundgang brachte sie zum Fenster. Sie blieb dort stehen und sah hinaus.
Was hieß das? Fragte sie ihn, ob er mit ihr verbunden sein wollte? Der Ritter hatte eigentlich keine Wahl. Natürlich könnte er sich bei der Prüfung verweigern, was er täte, wenn die Fürstin von Baro vor ihm stünde. Vorgesehen war eine Entscheidungsmöglichkeit des Ritters keineswegs. Letztlich lautete die Frage anders: Wollte sie, eine zwar nicht füllige, trotzdem schöne, zudem freundliche Fürstin, mit jemandem wie ihm eine Verbindung eingehen? »Fürstin von Kampan, verzeiht bitte, ich weiß nicht genau, was Ihr zu wissen wünscht. Es erscheint mir nicht schwierig, der einzige Ritter an einem Hof zu sein, falls Eure Frage auf diese Antwort zielt.«
Sie drehte sich um, schaute ihm geradewegs in die Augen.
Wieder blitzte ein Fetzen der Erinnerung in ihm auf. An was erinnerte er sich? Jetzt war keineswegs die Zeit, irgendwelchen Gedanken nachzuhängen.
»Nein, Tino, ich meine es, wie ich es gefragt habe.« Etwas leiser fuhr sie fort: »Willst du Ritter in Kampan werden? Möchtest du mein Ritter werden?« Sie schaute ihn aufmerksam an, nun fiel der Blick prüfend aus. Die rechte Augenbraue zitterte leicht.
»Ja, Fürstin, ich will Euer Ritter werden.« Tinos Herz pochte wild gegen das zu enge Kampaner Hemd. Er wagte kaum, einzuatmen, sonst würde er noch die Knöpfe absprengen.
Sie lächelte ihn an – das erste Lächeln in dem Gespräch. »Dann werden wir uns gleich sehen.« Daraufhin schritt sie an ihm vorbei und verließ den Saal.
Arco folgte ihr, ohne einen Blick mit ihm zu wechseln.
Erst als die Tür von außen geschlossen wurde, erhob Tino sich. Er schaute zuerst auf den leeren Lehnstuhl, dann zum Fenster, an dem sie gestanden hatte. War das Wirklichkeit? Oder träumte er all das? Es musste ein Traum sein. Denn es war mehr als unpassend, dass sie freundlich ihm gegenüber auftrat. Zum einen hatte eine Fürstin es nicht nötig, zugewandt zu sein. Zum anderen gab es vielfachen Grund, ihm die ehrlose Art, wie er aufgetaucht war, vorzuwerfen. Das hatte sie nicht getan – vorausgesetzt, das Geschehene stellte sich nicht als Traum heraus.
Kurze Zeit später sah er die Fürstin von Kampan wieder. Der Junge, der ihm im Waschraum zur Seite gestanden hatte, brachte ihn in einen Tino leidvoll bekannten Raum im zweiten Stockwerk des Anwesens.
Die Oberin der Stätte der Begegnung saß hinter einem Pult und schaute streng auf. Es war vermutlich ihr feistes Gesicht, das die Augen kümmerlich wirken ließ. Trotzdem waren sie in der Lage, drohende Blicke auszusenden. Links von der Oberin, mit ein wenig Abstand, saß die Fürstin, zu ihrer Seite ein niedriger Tisch mit Tee und Gebäck. Hinter ihr stand Arco. Der vom Tee ausgehende Duft nach Kräutern hing im Raum.
Tino schritt auf seine zukünftige Fürstin zu und kniete nieder. Er bemühte sich, sie nicht anzustarren, obwohl alles in ihm das tun wollte.
Sie nickte ihm zu. »Steh bitte auf, Tino, und beantworte die Fragen der Oberin.«
Als er aufstand, erhob sich ebenfalls die Oberin. »Verzeiht, Fürstin von Kampan, das widerspricht den Gepflogenheiten der Stätte der Begegnung. Die Ritter leisten die Antworten immer kniend.«
Die Fürstin von Kampan zog die Augenbrauen hoch. Ärgerte sie sich über die Widerworte oder darüber, dass er knien sollte? Die Selbstsicherheit der Oberin beeindruckte sie offenbar nicht. Ebenso wenig schüchterte sie deren Macht als Leiterin der Stätte der Begegnung ein.
Zwar war die Oberin keine Fürstin, sondern eine freie Frau. Gleichwohl vertrat sie das vom Hohen Rat gesetzte Recht und prüfte dessen Einhaltung und Umsetzung, was einer wichtigen Stellung gleichkam.
»Oberin«, erwiderte die Fürstin von Kampan, »das Verfahren läuft derart ab, dass du die Fragen stellst und der Ritter antwortet. Meine Rolle beschränkt sich auf das Zuhören. Das heißt folglich: Da er nicht mit mir, sondern mit dir spricht, besteht keine Notwendigkeit zu knien.«
Sie müsste eine solche Auseinandersetzung nicht für ihn führen. Er würde die Fragen auch kniend beantworten. Er täte alles – alles! – wenn das, was ihm wie ein Traum vorkam, wahr werden sollte. Zugleich stieg Bewunderung in ihm auf. Wie gelassen sie antwortete! Wie deutlich zugleich, denn ihr Tonfall verriet, dass sie keine Widerrede dulden wollte. Er bewies darüber hinaus, dass die Fürstin von Kampan nicht immer freundlich auftrat.
Obwohl das ebenfalls der Oberin klar sein musste, versuchte sie einen weiteren Anlauf: »Vielleicht hätte ich Euch genauer über den Ritter unterrichten sollen. Er war schon einmal hier im Raum und unter gleichen Bedingungen. Dabei hat er nicht nur sich beschämt, sondern das Ansehen unserer ehrenwerten Stätte beschädigt.«
Erstaunen trat in das Gesicht der Fürstin.
Sie hatte es nicht gewusst und nun verriet es die aufgeblasene Oberin. Was dachte die Fürstin von Kampan jetzt von ihm? Am Vormittag noch war er der Überzeugung gewesen, dass er heute und in aller Zukunft nicht verbunden werden würde. Jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als Ritter der Kampaner Fürstin zu sein. Sein Magen zog sich zusammen. Was, wenn sie die Geschichte hörte und ihn nicht mehr haben wollte?
Die Fürstin schüttelte den Kopf. »Das steht nicht in Zusammenhang mit der Frage des Kniens. Ich bitte darum, dass du nun die Prüfungsfragen stellst.« Obgleich sie die Oberin »bat«, verdeutlichten Stimme und Mienenspiel, dass es sich um einen Befehl handelte.
Überlegte die Oberin, sich weiterhin zu widersetzen? Nein, denn sie setzte sich hinter das Pult, entrollte ein Pergament und beschwerte die Ecken mit Steinen.
Tino wusste vom letzten Mal, dass die Prüfung einfach war. Es wurden die Grundsätze des Vereinigten Reichs der Mutterländer abgefragt, die der Hohe Rat nach dem Ende der Fürstenkriege beschlossen hatte. Andere Fragen betrafen die ritterlichen Aufgaben und Tugenden. Sogar nach Turnierregeln hatte die Oberin ihn damals gefragt. Selbst hierbei hatte er behauptet, er habe die Antwort vergessen – oder eine falsche gegeben. Dass ausgerechnet er die Regeln nicht kannte, glaubte niemand im hiesigen Teil des Reiches. Obwohl er wusste, dass die Fragen leicht ausfielen, beschlich ihn Unsicherheit. Hätte er vorgehabt, die Prüfung zu bestehen, hätte er sich all das noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
»Dann werden wir sehen, ob heute mehr in dir steckt als beim letzten Mal«, meinte die Oberin kalt. »Wie lautet der erste Lehrsatz?«
»Die Macht der Väter war der Ursprung allen Übels«, antwortete Tino.
»Und«, fragte die Oberin weiter, »was trat an die Stelle der verheerenden Vatermacht?«
»Mütterlichkeit und Fürsorge.« Er sagte mit Absicht bloß das Nötigste, nämlich die Worte, die man ihm unablässig vorgebetet hatte. Benina, seine Lehrerin, die er als Junge geliebt hatte, hatte ihm die Lehrsätze immer wieder genannt.
Die Mütterlichkeitslehre widersprach seinen Erfahrungen in Berchag. Von Mütterlichkeit und Fürsorge war dort nichts zu spüren. Trotzdem glaubte er an die Richtigkeit ihrer Grundsätze. Unter den Fürsten, zu Zeiten seines Urgroßvaters und von dessen Vätern, hatte es ständig kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Fürstentümern gegeben. Das war letztlich in die Fürstenkriege gemündet, die große Teile des Vereinigten Reiches zerstört hatten. Die einzige Hoffnung auf Frieden und ein gesichertes Leben hatte in der Machtübergabe an die weibliche Nachkommenschaft der Fürstenhäuser bestanden. Das bewährte sich im Großen und Ganzen. Sechs Jahrzehnte herrschte Frieden im Vereinigten Reich der mittlerweile Mutterländer genannten Fürstentümer. Nur hier und da kam es zu kleineren Gefechten. Ob es innerhalb der einzelnen Länder wirklich friedlich zuging, war eine zweitrangige Frage, befand Tino in Gedanken.
»Wie ist zu verhindern, dass die machtgierigen Männer die Macht zurückgewinnen und wiederum die Übel der Welt auf uns niederkommen?« Die Stimme der Oberin strahlte mehr Kälte aus als zuvor.
Tino ließ sich von der Art, wie sie die Frage stellte, nicht verunsichern. »Die Männer, insbesondere diejenigen edler Abstammung, werden zu striktem Gehorsam verpflichtet. Sie sind Diener ihrer Fürstin und schulden ebenso jeder anderen Fürstin größtmögliche Achtung. Sie werden von klein auf im Geist der Mütterlichkeit erzogen, um die Rohheit, Wildheit und Triebhaftigkeit des Mannes zu vertreiben. Selbstverständlich sind sie ihrer Fürstin zu Treue und vollkommener Ergebenheit verpflichtet.«
»So ist es.« Die Oberin sah ihn argwöhnisch an. Bevor er darüber nachdenken konnte, setzte sich das Frage-Antwort-Spiel fort. Sie fragte nach dem Alkohol-Verbot, den Einschränkungen der Glaubensausübung, insbesondere der solennischen, nach den ritterlichen Aufgaben am Hof einer Fürstin und nach Turnierregeln.
Mit jeder Frage, mit jeder Antwort verstrich Zeit. Was dachte die Fürstin von Kampan? Er traute sich nicht, den Blick zu ihr zu lenken. Erst als die Oberin die Steine von der Pergamentrolle nahm und diese sich zusammenrollen ließ, schaute Tino zur Fürstin. Sie saß ruhig in dem Lehnstuhl, einen Becher Tee in der Hand und sah zur Oberin.
Plötzlich schoss ein warmer Strom in ihn: Nicht nur die Prüfung, die er bestanden hatte, kam unerwartet, sondern gleichfalls das, was sich anschließen sollte. Nach den Regeln der Verbindungsschließung verbrachte der Ritter die Nacht im Gemach der Fürstin. Er war nicht gewandt im Umgang mit Frauen. Um Mägde machte er einen weiten Bogen. Wie hatte er sich zu verhalten, wenn er mit dieser wahrhaft edlen Frau allein wäre?
»Die Prüfung ist bestanden«, verkündete die Oberin mit wichtiger Miene. Sie wandte sich zur Fürstin von Kampan: »Hier ist das Schriftstück, das das Bestehen und die Verbindungsanbahnung besiegelt. Wenn Ihr es unterzeichnen mögt, Fürstin von Kampan, und anschließend die Verbindung vollzieht, dann steht der endgültigen Verbindungsschließung nichts mehr im Wege.«
Während ein herablassendes Lächeln auf den Lippen der Oberin spielte, erhob sich die Fürstin von Kampan. Sie setzte sich auf den Stuhl, den die Oberin freimachte, nahm die Feder, tunkte sie in die Tinte und unterschrieb das Schriftstück.
Diesen Moment würde er nie aus dem Gedächtnis verlieren: Wie die zwar erstaunlich dünne, trotzdem besondere Frau, die seine Fürstin sein sollte, an dem Pult saß und ein Pergament unterzeichnete. Ihr Tun riss ihn aus dem verhassten Berchager Leben heraus in ein neues Leben. Als sie aufblickte, lächelte sie ihn kurz, fast unmerklich an. Zitterte die rechte Augenbraue?
Bevor er sich dessen vergewissern konnte, stand sie auf und sprach die Worte, die sie bei ihrem ersten Zusammentreffen ebenfalls vorgebracht hatte: »Dann werden wir uns gleich sehen.«
Fortsetzung gewünscht?
